Das Geräuschkunstfestival der MHL
vom 20. bis 22. Oktober 2023
Symposium zur Emanzipation des Geräuschhaften in der Musik mit Konzerten, Installationen und Präsentationen internationaler Referentinnen und Referenten. Eine Kooperation der MHL, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Musthesius Kunsthochschule und dem Kieler Form für zeitgenössische Musik.
Das Geräuschkunstfestival mit Symposium der MHL
Mit acht Konzerten, Installationen und sechzehn Präsentationen widmet sich das Symposium "Sinne|Sinn: Geräusch – Musik – Geräuschmusik" vom 20. bis 22. Oktober 2023 der Auseinandersetzung mit Musik, in der sich Geräuschhaftes als selbstverständlich musikalisches Material emanzipiert hat. Dabei ist das verlängerte Wochende das zweite in einer Serie von drei Symposien unter dem Obertitel "Sinne|Sinn", einem Netzwerkprojekt der MHL, der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der Muthesius Kunsthochschule Kiel und dem Kieler Forum für zeitgenössische Musik e.V.
Die Präsentationen zu verschiedensten Themen der Geräuschkunst gestalten Dozierende der MHL und Gäste wie Hartmut Rosa (Jena), Helga de la Motte-Haber, Martin Kaltenecker (Paris), Marko Ciciliani (Graz), Michael Maierhof (Hamburg), Anothai Nitibhon (Thailand), Axel Dörner, Max Eastley, Kathrin Kirsch (CAU Kiel) und Sven Lütgen (Muthesius Kunsthochschule). Das bunte Spektrum an Ansätzen beinhaltet u.a. Werkbetrachtungen, aufführungspraktischen Gedanken, Einblicke von Komponisten und Performern in ihre kreative Arbeit, Darstellung erweiterter Spieltechniken, soziologischen Einordnungen und pädagogische und Vermittlungsaspekte.
Die acht Konzerte des Symposiums werden maßgeblich von Dozierenden und Studierenden der MHL (darunter das MHL-Instant Composing Enseble, das MHL-Ensemble für Neue Musik unter Maximilian Riefer sowie die Schlagzeugklasse Prof. Johannes Fischer) bestritten sowie durch ein Gastspiel des Ensembles Klangrauschen und Gästen bereichert. Die Programme warten u.a. mit "Klassikern" der Geräuschkunst auf wie etwa Lachenmanns bedeutender Ensemblekomposition "Mouvement - vor der Erstarrung", Stockhausens "Mikrophonie I" für Tamtam, Mikrophone, Filter und Regler oder Varèses "Ionisation" für 13 Schlagzeuger auf. Außerdem erklingt Musik von und mit Komponierenden der MHL (Danksagmüller, Fischer, Goldford, Hein, Kim, Korte, Lemke, Mansouri, Rosenberger), von Gästen des Symposiums (Ciciliani, Dörner, Eastley, Maierhof, Nitibhon, Yip) sowie Kompositionen von Aperghis, Bauckholt, Bedrossian, Cage, Fure, Oliveiros, Pisaro, Alexander Schubert und Sciarrino.
Außerdem sind während des Symposiums Installationen in der Umgebung des Großen Saales und des Kammermusiksaals zu erleben, so etwa die interaktive Installation "WHY FRETS? - Tombstone" von Marko Ciciliani sowie Arbeiten von Studierenden der MHL.
Warum ist das Thema "Geräuschkunst" so virulent?
Hatte Arnold Schönberg in seinem zweiten Streichquartett (1907/08) den "lieben Augustin" zitiert, um sich von der alten tonalen Welt zu verabschieden und anschließend "Luft von anderem Planeten" zu atmen, so erklingt in Helmut Lachenmanns Ensemblewerk "Mouvement – vor der Erstarrung" (1983/84) dasselbe Lied nur als rhythmisches Skelett, das mit geräuschhaften Klängen besetzt wird. "Hin" ist hier nicht nur die gute alte Tonalität, sondern auch die Vorstellung an sich, dass der Komponist ausschließlich ein "Tonsetzer" sei, Musik vornehmlich aus der Organisation von Tönen bestehe. Was Lachenmann zu diesem Zeitpunkt bereits (auch für sein eigenes Schaffen) rückblickend feststellt, ist, umgekehrt formuliert, die Emanzipation des Geräuschs und der Aufbruch in phantastische reiche Gefilde neuer Klanglichkeit, die die Invention von ihnen eignenden Beziehungsnetzen und adäquater Formen ebenso herausfordert wie das Hören dieser Musik.
Diese Entwicklung hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, denkt man etwa an die italienischen Futuristen mit ihren an der Geräuschwelt der Großstadt orientierten neuen Instrumenten, den Intonarumori, für die sie v.a. in den 1910er und 1920er Jahren Musik erfanden. Komponisten erkannten das Potential der bislang viel zu oft lediglich "dekorativ" genutzten Schlaginstrumente. Percussion wurde zu einer autonomen Instrumentalformation, wie etwa Edgar Varèses "Ionisation" (1929-31) für 13 Schlagzeuger bezeugt. "Alles Hörbare der Welt wird Material" postulierte Walter Ruttmann 1929 und nutzte die Möglichkeiten der Klangaufzeichnung, Modifikation und Montage, um mit "Weekend" ein collageartiges frühes Hörspiel zu erfinden, in dem u.a. musikalisches In-Beziehung-Setzen scheinbar unzusammenhängender Alltagsklänge erprobt wird.
Dieses Musikalisieren aufgenommener Klänge wurde von der "Musique concrète" weiterentwickelt und hat sich seitdem in verschiedensten Spielarten der fixed media Komposition stetig anhand der Entwicklungen der Studiotechnik aktualisiert. John Cage wünschte sich 1940 als Instrumente für "Living Room Music" Alltagsgegenstände, wie sie in jedem Haushalt zu finden sind, und erklärte alles während einer Aufführung von "4’33’’" (1952) Hörbare zum Werk. Soundscapes und Field Recordings thematisieren den musikalischen Wert von in der Natur oder auch im städtischen Leben Vorgefundenem, ebenso wie Klangkunst und Installation aus der Fülle alles Klingenden Kunst schaffen. Die Entwicklung der live-elektronischen Möglichkeiten erweitert den Kosmos des Instrumentalen erheblich und führt in eine immer wieder unerhörte, komplexe Geräuschhaftigkeit, die zu fixieren neue Notationsformen erfordert, wie schon das Pionierwerk "Mikrophonie I" von Karlheinz Stockhausen aus dem Jahre 1964 eindrucksvoll zeigt. Neue Instrumente werden erfunden, entstehen durch Konstruktion nach Bauplan ebenso wie durch experimentellen Umbau bestehender hoch- oder gerade auch niedrigpreisiger, oft elektronischer Gerätschaften (circuit bending). Und das Artefakt, der Klick, das Rauschen, der rechnerische Kollateralschaden elektronischer Klangtransformationen, das vormals aus dem endgültigen Kunstprodukt operativ entfernt wurde, behauptet ebenfalls seinen Eigenwert und wird zum musikalischen Material.
Das Geräusch hat die zeitgenössische Musik also auf vielen Ebenen verändert und ist nach wie vor Motor aktueller Entwicklungen. Das Thema "Geräusch – Musik – Geräuschmusik" besitzt daher große Aktualität im musikinternen Material- und Ästhetikdiskurs.
So unmittelbar sie dem Hörer entgegentritt, so sehr scheint sich Geräuschmusik gegen eine wissenschaftlich-intellektuelle Auseinandersetzung im weitesten Sinne zu sperren. Am traditionellen "Tonsatz" orientierte Werkzeuge lassen sich kaum noch nutzen. Viele Partituren sind tabulaturartige Spielpartituren, die also nicht den Klang zeigen und der Analyse zugänglich machen, sondern die Arbeitsvorgänge der Klangerzeugung. Im Falle von fixed media existiert oft gar keine Partitur, bei Live-Elektronik beschränkt sich Notation meist auf praktische Anweisungen.
Gerade deswegen ist das Thema "Geräuschkunst" aber für post-hermeneutische Interpretationsansätze besonders geeignet. Jedes eigenständige Werk fordert die Hörerin und den Hörer heraus, spezifische Berührungspunkte zu finden, und "Resonanzen" zu erspüren. Ausgehend vom Aufführungserlebnis diese Kategorien zu finden, die einem Verständnis eines spezifischen Werkes dienlich sein können, sie zu verbalisieren, das Aufführungserlebnis in eine Erlebnispartitur jenseits der reinen Spielpartitur zu übersetzen, um dann letztlich diskutieren zu können, ob von dieser Basis aus handfeste Aussagen über das Werk wieder gelingen könnten, das ist Aufgabe unseres Symposiums.
Durch die geschichtliche Entwicklung und die Diversität der Formen von Geräuschkunst im weitesten Sinne bestehen vielfältige Anknüpfungspunkte zu anderen Künsten und den Gesellschaftswissenschaften. So werden im Rahmen des Symposiums verschiedenste Herangehensweisen erprobt. Sei es das interpretatorische Dechiffrieren und Gestalten bedeutender Werke durch Studierende und Dozierende der MHL sowie durch Gäste, sei es Erfahrungsgewinn durch eigene kompositorische Auseinandersetzung oder durch Improvisation, sei es das Erleben zahlreicher Konzerte und Installationen, Soundwalks oder der reflektierende Vortrag sowie die gemeinsame Diskussion. Im Rahmen der Vorträge werden renommierte Spezialisten ihre Forschungsergebnisse zu verschiedenen Bereichen der Geräuschkunst im Allgemeinen und zu jenen Komponisten und Schlüsselwerken, die in diesen Tagen präsentiert werden, im Besonderen vortragen. Ebenso kommen Komponisten zu Wort, die sich theoretisch im vorliegenden Diskurs engagieren. Im Rahmen von Diskussionsrunden werden die Erkenntnisse in Beziehung gesetzt zu den Erfahrungen der Interpreten. Und abgerundet wird das Symposium durch einen weitergefassten soziologischen Blick auf die Materie.
FR / 20 / OKT / 23
SA / 21 / OKT / 23
SO / 22 / OKT / 23